
Normalerweise trauert man in Oberägypten drei Tage, wenn jemand gestorben ist. Dies ist schon seit hunderten von Jahren Brauch und hat sich bis heute bzw. bis Corona nicht geändert. In dieser Zeit versammeln sich alle Familienmitglieder, Nachbarn und Freunde im Haus des Toten. Die Männer sitzen zusammen, rauchen Shisha und unterhalten sich. Die Frauen scharen sich um den Verstorbenen, heulen und klagen lautstark. Je mehr Menschen zusammenkommen und je lauter das Weinen und Jammern ist, desto angesehener und beliebter war die Person zu Lebzeiten.
Auch als Mohammads Vater verstorben war, fanden sich im Haus der Familie alle seine Kinder, Enkel und die Nachbarn ein, um die Witwe in diesen Stunden bis zum Begräbnis zu begleiten und ihr Trost zu spenden.
Alle waren da! Nur einer fehlte! Mohammad – einer der vier Söhne. Er, der als Kind nur knapp dem Feuertod entkommen und seitdem nie wieder richtig gesund geworden war, war wie jeden Tag auf der Straße. Er saß im Schatten, rauchte seine Bango-Zigaretten und trank seine „Medizin“, wie er den selbstgebrauten Alkohol nannte. Immer wieder kamen Männer oder Frauen zu ihm und sprachen: „Mohammad, es wird Zeit! Du musst dich beeilen und zum Haus deiner Eltern gehen. Deine Familie wartet nur noch auf dich. Der Leichnam deines Vaters wird bald zum Friedhof gebracht. Du musst deinen Brüdern helfen, ihn zu tragen.“
Mohammad lächelte nur vor sich hin, nickte jedes Mal und sagte: „Ja, ja – ich komme gleich“ Er rührte sich aber nicht vom Fleck und alles Reden half nichts. Als die Stunde des Grabgangs da war, gaben die Leute schließlich auf und gingen zum Haus des Toten oder zum Friedhof, um dort auf die Trauernden zu warten.
Das Wehklagen und Schreien der Frauen war weit zu hören, als der Trauerzug sich langsam durch die Straßen bewegte. Es schlossen sich immer mehr Menschen an und gaben dem Toten ihr Geleit. Die Menge kam nur langsam voran, machte immer wieder Halt. Endlich war das Ziel aber erreicht. Am frisch ausgehobenen Grab stellten sich alle auf und warteten, dass der Sarg ankam.
Kurz bevor es soweit war, brach auf einmal Tumult los. Eine einzelne Stimme durchbrach das Wehklagen der Frauen und schrie: „Mein Vater ist tot! Lasst mich zu ihm! Ich muss ihn zu Grab tragen! Ich komme, ich komme . . .“ Und Mohammad stürzte durch die Menge auf seine Brüder zu, die eben dabei waren, den Verstorbenen aus dem Sarg zu nehmen und ins Grab zu legen.
Vergeblich versuchten die Umstehenden, Mohammad zu beruhigen und aufzuhalten. Er entwischte ihnen immer wieder und kämpfte sich den Weg frei, um zum Grab seines Vaters zu gelangen. Schon gerieten die ersten Leute ins Straucheln und als Mohammad seine Brüder erreicht hatte, stolperte auch er und riss dabei einen seiner Brüder mit. Nun konnten auch die anderen das Gleichgewicht nicht mehr halten und so stürzten die Söhne zusammen mit ihrem toten Vater ins Grab.
Die Aufregung und das Geschrei waren groß. Alle waren wütend auf Mohammad, schimpften und zeterten mit ihm. Der aber saß inzwischen im Schatten. „Alhamd lilah!* Ich habe es noch rechtzeitig geschafft meinen Vater zu Grabe zu tragen“, sagte er mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen.
Wie so oft beruhigten sich alle bald wieder und waren auch nicht lange böse auf Mohammad. Ein Begräbnis wie dieses hatte die Stadt noch nie gesehen. Bis heute erzählen die Leute davon und die Geschichte wird an die Kinder und Enkel weitergegeben.
*Gott sei Dank!