Kaffan - Vergebung in Südägypten

Veröffentlicht am 6. August 2023 um 18:39

Erlittenes Unrecht „regeln“  in den ägyptischen Provinzen auch heute noch häufig Privatpersonen unter sich. Die Familienverbände sind – für Europäer – unglaublich groß und völlig unüberschaubar. Nimmt man nur Großeltern, Eltern, Kinder, Neffen, Nichten, Cousins und Cousinen, kommen oft schon hundert oder mehr Personen zusammen. Verwandtschaftliche Bande sind eng, die Menschen halten zusammen, helfen sich gegenseitig im positiven – wie auch negativem Sinn.

Blutrache ist in manchen Familien auch heute noch üblich

Bei Streitigkeiten mischt schnell der ganze Clan mit, um die vermeintliche Familienehre zu verteidigen oder gemeinsam gegen begangenes Unrecht vorzugehen. Dies bedeutet im Klartext, dass Blutrache bis heute existiert. Wird ein Familienmitglied getötet, erwartet man auch heute noch manchmal vom Bruder oder einem anderen engen Verwandten, für "Gerechtigkeit" zur sorgen und den Tod zu rächen. Das Opfer muss nicht zwangsläufig die Person sein, die den ersten Totschlag begangen hat. Da es sich hierbei häufig um die „schwarzen Schafe“ handelt, die sowieso Ärger machen und Kummer bereiten, kann es passieren, dass stattdessen der „brave“ Sohn, der für die Familie sorgt, als Opfer auserkoren wird. Dies wiederum ruft die Ersttäter-Verwandten auf den Plan, um ihrerseits erneut Rache zu üben. So entsteht ein Teufelskreis, aus dem es kaum ein Entrinnen gibt.

Selbstverständlich werden Täter in Ägypten von Polizei und Gericht verfolgt und verurteilt. Da Blutrache aber keine Verjährung kennt, droht auch nach Jahrzehnten noch Vergeltung. Besonders bei Fällen, die als Notwehr oder Affekt eingestuft werden und daher die Gefängnisstrafen dementsprechend niedrig ausfallen, müssen die Entlassenen bei ihrer Heimkehr für sich und ihre Familien mit dem Schlimmsten rechnen.

Kaffan als Ausweg, der eine schwere Last bedeutet

Eine Möglichkeit, den Bann zu durchbrechen und Feindschaften zu beenden gibt es aber: Den Kaffan! Dies ist zum einen das ägyptische Wort für das Leichentuch, in das - bereits zur Zeit der Pharaonen - die Verstorbenen eingewickelt wurden.

In Südägypten hat der Kaffan aber noch eine andere Bedeutung bzw. Funktion. Übergibt ein Mensch seinen Kaffan an eine andere Person bedeutet dies, dass er damit sein Leben beendet. Legt er das weiße Tuch in die Hände des anderen, ist er ab diesem Zeitpunkt tot.

Wenn ein vermeintlicher Mörder seinen Kaffan der Familie des Opfers aushändigt, muss die Fehde sofort beendet werden. Es gibt keinen Grund mehr Blutrache zu üben. Durch den „symbolischen“ Tod des Schuldigen wurde Vergeltung geübt und Buße getan.

Europäern mag dieses Ritual als einfacher Weg erscheinen, um Schuld zu sühnen. Für Ägypter, die zum Großteil noch sehr eng mit Traditionen, Religion und Aberglauben verbunden sind, ist dies jedoch ein unglaublich schwerer Schritt, der sie zum lebenden Toten macht.

Auch in dem Video – siehe Link - ist ganz deutlich zu sehen, wie verängstigt und eingeschüchtert der Mann ist, der seinen Kaffan und damit sein Leben in die Hände des anderen legt.

Oft sind es Sheiks, deren Wort und Urteil unantastbar sind, die einen Kaffan zur Beendigung von Blutrache anordnen. Auf diese weisen Männer hört man. Was sie sagen, ist Gesetz und wird befolgt.

Ein großes Ereignis, das viele Zeugen braucht

Eine Kaffan-Übergabe erfolgt nicht privat und hinter verschlossenen Türen, sondern in einer großen öffentlichen Zeremonie. Neben den betroffenen Familien und Stadt- oder Dorfbewohnern werden auch Polizeichefs, Sheiks und Dorfälteste eingeladen, damit möglichst viele Menschen Zeuge des Kaffans sind und dieser nicht geleugnet werden kann.

Der folgende Link führt zu einem Video auf Facebook, das die Zeremonie einer Kaffan-Übergabe zeigt. Ab der 49. Minute ist der Austausch des Leichentuchs zwischen den beiden Männern zu sehen. Die Aufnahmen zeigen nicht die Personen, die in unserer Geschichte vorkommen, sind aber exemplarisch für den Ablauf dieser Feierlichkeiten.

https://fb.watch/maahBp_3ZS/

 

In Fathis "Gang nach Canossa" oder das Ende einer Familienfehde – siehe Anekdoten und Schicksale - erzählen wir die Geschichte eines Mannes und seine Kaffan-Übergabe, die nur wenige Jahre zurückliegt.