
Der Kauf eines neuen Autos ist – wahrscheinlich überall auf der Welt – für viele ein großes Ereignis. Und auch in der westlichen Welt gibt es beliebte Rituale, denen man gerne folgt, wenn der Wagen vor der Tür steht. Manch einer hat vielleicht ein Amulett des heiligen Christophorus als Schlüsselanhänger, andere hängen einen Rosenkranz an den Rückspiegel oder lassen ein Maskottchen als Glücksbringer mitfahren – je nach Religiosität oder Hang zum Aberglauben. Der Gedanke, der dahinter steckt, ist stets der gleiche: Das Auto und vor allem dessen Insassen sollen vor Unfällen und Unglück beschützt werden. All diese Bräuche kennt man auch in Ägypten: Gebetsketten baumeln an Sonnenblenden und sogar der Koran liegt in vielen Autos auf dem Armaturenbrett.
Bevor diese Devotionalien oder Talismane aber ihren Platz im Wagen finden, gibt es in den ägyptischen Provinzen noch eine andere Tradition, die Auto und Besitzer stets heil und gesund überall hinbringen soll.
Fleisch für die Armen
Wer sich ein Auto gekauft hat, schlachtet bzw. lässt ein paar Hühner, ein Schaf oder eine Kuh schlachten – je nach finanziellen Möglichkeiten. Das Fleisch der Tiere ist als Spende für die Armen des Orts gedacht. Es wird entweder abgepackt und armen Leuten nach Hause gebracht oder man richtet selber ein Essen aus, zu dem man die Bedürftigen des Dorfes oder Stadtteils einlädt.
Oft werden mehr als hundert Leute mit einer guten Mahlzeit versorgt. Als Dank für das Fleisch muss der frischgebackene Autobesitzer von den Bedürftigen in ihre Gebete eingeschlossen werden. Und damit nicht genug: Alle, die eingeladen sind, tauchen ihre Hände in das Blut des Opfertiers und versehen das neue Auto mit ihren Handabdrücken. So soll auch das Blut des Tieres das Auto beschützen.
Europäern mag diese Sitte brachial oder sogar abscheulich anmuten. Blutopfer gehören in unserem Teil der Welt seit Ewigkeiten der Vergangenheit an. Das Schächten von Tieren, das in den ägyptischen Provinzen oftmals vor der Haustür passiert, ist für uns schwer „verdaubar“. Und dann noch die eigenen Hände in Blut tauchen? Barbarisch! Unzivilisiert!
Zweifelsohne entspricht der Umgang mit Tieren allgemein nicht unseren Vorstellungen von Tierwohl. Diese Tatsache soll weder verharmlost noch beschönigt werden. Ganz im Gegenteil! Das Verhalten Tieren gegenüber ist oft grausam, ohne jede Empathie und absolut zu verurteilen. Schon kleine Kinder werfen mit Steinen nach Katzen, treten Hunde oder treiben mit Holzscheiten ihre Esel an. Dies gehört zu den Dingen, bei denen kein Mensch schweigen, sondern durchaus seinen Unmut zeigen sollte.
Was man zum Thema Schächten wissen sollte: Bei den Hausschlachtungen bekommen die Tiere oft ein Beruhigungsmittel zu trinken, damit sie nicht mehr viel mitbekommen.
Jede Medaille hat zwei Seiten
Bevor man lautstark aufschreit und fremde Sitten anprangert, möge man zudem auch kurz innehalten und bedenken, dass Tiere schlachten und essen immer auf Kosten der Tiere geht und auch bei uns „täglich Brot“ ist. Bevor man Schächten verurteilt, möge man sich erinnern, wie viel Leid Nutztiere in europäischen Großbetrieben, Schlachthöfen oder bei Tiertransporten ertragen müssen, damit möglichst oft ein Stück Fleisch auf den Teller kommt? Dass die Tötung bei uns nicht mehr vor der Haustür sondern für den Großteil der Bevölkerung anonym, unsichtbar – und oft - im Akkord erfolgt, macht uns nicht zu besseren Menschen und hat seit Jahren zur Folge, dass immer mehr Fleisch – oft fast täglich – gegessen wird. Ähnlich wie früher in Europa findet man dagegen in Ägypten Hühnchen, Schaf oder Rind in den meisten Familien höchstens einmal pro Woche auf dem Speiseplan. Die Medaille hat wie immer zwei Seiten, wenn man genauer hinsieht und nachdenkt.